Alle Buddha-Qualitäten wie voll entwickelte Liebe, Mitgefühl, Weisheit usw. existieren bereits in deinem eigenen Herzen und deinem Geist. Alles, was nötig ist, ist sie herauszubringen und vollständig auszudrücken. Man kann jedoch nicht einfach so etwas sagen, wie: „Oh ja, ich werde einfach auf Mitgefühl meditieren und somit das Große Mitgefühl zum Vorschein bringen.“ Das klappt nicht. Man braucht eine Methode, um Qualitäten wie Mitgefühl, Freude, Vertrauen etc. herauszubringen und weil Form etwas ist, woran wir gewöhnt sind und was uns ständig umgibt, ist es im Allgemeinen notwendig, mit einer bestimmten Form zu arbeiten. Du praktizierst also mit einer Form, die in Richtung der Qualität orientiert ist, die du herausbringen möchtest. Und wenn du dies für eine sehr lange Zeit geübt hast, bekommst du vielleicht für einen Moment eine Erfahrung dieser Qualität. Zum ersten Mal erlebst du dann diese Qualität als direkte Erfahrung, wenn auch nur für einen flüchtigen Moment.
Du musst aufpassen, dich von der Form nicht verführen zu lassen; d.h. dass die formlose Erfahrung, die aus der Form kommt, zwar wirklich und echt ist, du aber unterschwellig glaubst, die Form selbst sei notwendig als eine solide Basis für diese Erfahrung. Du denkst: „Ich habe schwer daran gearbeitet und eine erkennbar, solide Erfahrung daraus gewonnen und diese Erfahrung wächst sogar an. Das Beste ist, mich noch mehr anzustrengen.“ Der Trick besteht jedoch darin, an einer bestimmten Stelle weniger Anstrengung aufzuwenden, den Formaspekt loszulassen und zu versuchen, in der formlosen Erfahrung von Mitgefühl etc. zu ruhen.
Wenn du die Form zu früh loslässt, stirbt die Form und ebenso stirbt deine Erfahrung. Lässt du die Form zu spät los, wirst du von der Form aufgesogen – du hast sozusagen dein gesamtes Geld auf sie gesetzt und nun kannst du deine Investition in sie nicht aufgeben, sie ist zu wichtig. Das ist vergleichbar mit dem Sprung von einem galoppierenden Pferd auf ein zweites. Wenn du zu früh springst, wirst du in der Lücke zwischen den beiden Pferden auf den Boden fallen. Wenn du versuchst, deinen Sprung zu verzögern, wird das Pferd, auf dem du reitest, zu erschöpft, um mit dem zweiten frischen Pferd Schritt zu halten. Es ist auch wie ein Staffelauf, bei dem der Staffelstab von einer Person zur nächsten übergeben wird; dies muss auf richtige Weise und zur richtigen Zeit geschehen.
Wenn du die Form (Kyerim) in der richtigen Weise loslässt, kannst du die Formlosigkeit (Dzogrim) sehr schnell vollenden. Es gibt eine tibetische Geschichte, die das erläutert: Ein Mann steigt auf ein Pferd. Er vollendet die Kyerim-Phase, als sein Fuß in den linken Steigbügel steigt, und vollendet dann die Dzogrim-Phase, als sein Fuß in den rechten Steigbügel schlüpft. Wie in diesem Beispiel kann das Ganze sehr schnell geschehen, aber für die meisten von uns ist es ein allmählicher Prozess.
Wenn du die Form tatsächlich loslässt und im Mitgefühl selbst, in der Freude selbst oder im Vertrauen selbst ruhst, ist die Erfahrung enorm angewachsen. Genau darum geht es beim Prinzip von Kyerim und Dzogrim. Alle Übungen mit Form haben einen formlosen Aspekt, in den sie hineinführen, und der unermesslicher, wirklicher und kraftvoller ist als die Form. Dieses Prinzip wirkt auf allen Ebenen, angefangen vom Hinayana, wo du versuchst, Dhyana und Samadhi zu entwickeln, bis hin zum Ati, wo man zwar die Begriffe Kyerim und Dzogrim nicht oft verwendet, aber das Prinzip immer noch vorhanden ist.