Offenheit, Klarheit und Feinfühligkeit: Basis, Pfad und Frucht

In gewisser Weise gehören Offenheit, Klarheit und Feinfühligkeit ganz natürlich zu unserem Sein. Wir verfügen bereits über eine bestimmte Offenheit, eine bestimmt Art, mit dem Raum in Beziehung zu treten, selbst wenn es bloß die grobe Vorstellung eines äußeren Raumes ist. Du musst dies haben, um ein menschliches Wesen zu sein, ja sogar um irgendein Wesen zu sein. Da Wahrnehmungen für uns in dieser oder jener Weise auftauchen, müssen wir ebenfalls ein gewisses Maß an Klarheit haben. Zudem gehört es zu unserem Wesen, Emotionen wie Verlangen, Hass, Liebe, authentische Empathie usw. zu empfinden. Wir alle haben diese Art von Feinfühligkeit zu einem bestimmten Ausmaß. Manche Menschen scheinen ein größeres Maß dieser Qualitäten zu besitzen als andere, und die Qualitäten können bei manchen in verzerrter Form erscheinen. Dennoch braucht man nichts Bestimmtes zu sein oder tun, um ein gewisses Maß an Offenheit, Klarheit und Feinfühligkeit zu haben. Es gibt also eine innewohnende Grundlage dieser drei Qualitäten, die einfach gegeben ist – man könnte sagen, wir sind damit geboren. Andererseits scheint es so, als könne man diese Qualitäten auch kultivieren. Diese beiden Arten die drei Qualitäten zu betrachten können mit den Begriffen Basis, Pfad und Frucht erläutert werden.


Die Wirklichkeit dessen, was man ist, was die Welt ist, was die Natur der Dinge ist, liegt tatsächlich immer gegenwärtig und unmittelbar vor uns, weder verborgen noch verdunkelt. Leider haben wir uns entschieden, die Wirklichkeit nicht anzuschauen, und, obwohl sie gar nicht verdeckt ist, haben wir es geschafft, sie zu ignorieren. Unsere Weigerung, die Wahrheit vor uns anzusehen, entspricht der Basis und dies ist unser Ausgangspunkt. So verhalten wir uns den Großteil unserer Zeit als gewöhnliche Menschen, die ihren üblichen Aktivitäten nachgehen. Obgleich unsere Erfahrung der Welt tatsächlich von einer enormen Lebendigkeit kommt, von einem wirklichen und authentischen, bereits in uns vorhandenen Erwachtseins, und voller Sinn und Bedeutsamkeit ist, nehmen wir dies nicht so wahr. Wir kommen noch nicht einmal auf den Gedanken, dass es da eine authentische Realität gibt, die verdeckt ist. Wir nehmen unsere gewöhnliche verwirrte Erfahrung einfach als selbstverständlich hin und verbringen viel Zeit damit, uns darüber zu beklagen, dass die Dinge nicht so laufen, wie wir das gerne hätten, besser laufen könnten o.ä.


Du befindest dich also in einer Situation, in der du deinem eigenen Schmerz gegenüberstehst, deinem eigenen Gefühl von Unvollständigkeit und möglicherweise einer Ahnung, dass es da etwas zu entdecken gibt. Vielleicht erlebst du dies in einer recht groben Weise als das Gefühl von „Mein Leben ist hektisch und unbefriedigend, ich hätte gerne etwas, was mich beruhigt und entspannt“. Aus verschiedenen Gründen, z. B. als Reaktion auf deinen Schmerz oder aus einer positiveren Haltung heraus, wie echter Neugier auf die geheimnisvolle Welt der Erfahrung, wendest du dich vielleicht dem Buddhismus zu als einem Weg, deinen Schmerz zu lindern oder etwas zu entdecken. Auf die eine oder andere Art, von verschiedenen Traditionen unterschiedlich formuliert, sagt man dir dann, dass es letztlich darauf ankommt, zu lernen, offener zu sein. Du musst Klarheit oder Bewusstheit entwickeln und du musst dir selbst erlauben, Situationen wirklich zu empfinden und auf sie einzugehen, jenseits der üblichen und unmittelbar ichbezogenen Reaktionen auf die Gegebenheiten. Die Möglichkeit einer Veränderung in uns aufgrund von Offenheit oder Raumhaftigkeit, Klarheit oder Bewusstheit, Feingefühl oder Empfänglichkeit entspricht dem Pfad.


Der Pfad des Buddha besteht einfach darin, diese drei Qualitäten von Offenheit, Klarheit und Feinfühligkeit zu kultivieren. Aber was bedeutet das? Insbesondere vor dem Hintergrund, dass jene Qualitäten uns ja bereits innewohnen. Weil wir den Eindruck haben, dass sie verdeckt sind (obwohl sie es in Wirklichkeit nicht sind), besteht der Pfad einfach daraus, die bedeckende Schicht allmählich abzutragen. Der Pfad kann nicht etwas sein, was die innewohnenden drei Qualitäten verändert. Du kannst dich selbst nicht offener, klarer oder feinfühliger machen als du es in deiner grundlegenden Natur bereits bist. Deshalb üben wir und weil diese drei Qualitäten immer offensichtlicher werden, sieht es so aus, als kultivierten wir sie. Wir verwenden den Ausdruck „kultivieren“, weil dies scheinbar vor sich geht, aber was wir in Wirklichkeit tun, ist die Hindernisse zu entfernen, die die Qualitäten blockieren und sie davon abhalten hervorzutreten.


Je weiter du auf dem Pfad fortschreitest, desto wichtiger ist es zu erkennen, dass die drei Qualitäten einfach nur aufgedeckt werden, sie werden nicht vermehrt. Du legst etwas offen, was du bereits hast, du eignest dir nichts Neues an. Beim späteren Üben ist es so, dass die Anwendung großer Anstrengung die drei Qualitäten nicht vermehrt, sondern sogar Verwirrung stiftet und ein Problem schaffen könnte. Zu wissen, dass die drei Qualitäten nicht verschwinden werden, verändert deine Art zu praktizieren grundlegend. Es bedeutet, dass du es dir leisten kannst, entspannter zu sein als du dachtest. Das Dumme dabei ist, dass wir zwar zu wissen glauben, was Entspannung bedeutet, es tatsächlich aber nicht wissen. Wie Trungpa Rinpoche sagte, bedeutet Entspannung nicht, die Füße auf den Tisch zu legen, eine Zigarette anzuzünden und im Mief zu sitzen. Das hieße lediglich, dass du der Unbewusstheit frönst. Es ist wie der Versuch, Urlaub von deiner eigenen Erfahrung zu machen, was für immer unmöglich ist. Es gibt eine andere Form der Entspannung, die damit verbunden ist, klarer zu werden und letztlich die Natur der Dinge völlig zu realisieren. Dies ist wie die vollständige Genesung von den Pocken, nach der du diese Krankheit niemals wieder bekommen kannst. Du wirst niemals wieder in Dumpfheit und Verwirrung fallen.


Wenn die scheinbare Schicht der Verwirrung entfernt wird, verändert dies nicht nur die Weise, wie du die Welt siehst, sondern deine veränderte Wahrnehmung der Welt bringt auch mit sich, dass du dich nun anders verhältst. Wenn du wahrhaft offener für Situationen und Menschen bist, kannst du dir erlauben, kühner, ehrlicher und direkter in deinem Handeln zu sein. Am Ende des Pfades befindet sich die Frucht, die Erkenntnis, dass Verwirrung von Anfang an niemals existiert hat. An diesem Punkt wirst du Buddha, mit den besonderen Qualitäten und Aktivitäten des Buddha, die einfach hervorstrahlen, sobald du vollkommenes Vertrauen hast, dass Offenheit, Klarheit und Feinfühligkeit nun vollständig freigelegt und gänzlich ungehindert sind.


Eines der geheimnisvollen Dinge, die beim Fortschreiten auf dem Pfad geschehen, ist, dass – falls du Offenheit, Klarheit und Feinfühligkeit wie zu entwickelnde Qualitäten behandelst – diese Qualitäten wie Objekte erscheinen, denen du dir bewusst sein kannst. Beispielsweise betrachtest du dich selbst und denkst: „Nun, ich kein sehr offener Mensch, aber ich könnte offener werden“. Und vielleicht stellst du tatsächlich fest, dass du immer offener wirst. Das einzige Problem dabei ist deine fragwürdige Vorstellung von einem Selbst, das bewusst ist und der Denker, der Fühlende, der Tuende etc. ist. Durch die Praxis beginnst du die Instabilität dieses Eindrucks von einem Selbst zu erkennen und darüber hinaus wächst in dir die Ahnung, dass die drei vor dir auftauchenden Qualitäten tatsächlich von jenem geheimnisvollen Ort kommen, der jenseits von allem liegt, worauf du dich ausrichten oder dessen du dir bewusst sein könntest. Wenn du jene Qualitäten zu ihrem Ursprung zurückverfolgst, wird dieser Ursprung immer rätselhafter.


Du kannst sagen: „Offenheit, Klarheit und Feinfühligkeit sind das, was ich bin“. Dennoch kannst du dir jener Qualitäten selbst niemals bewusst sein. Du kannst dir einiger Auswirkungen bewusst sein, die Offenheit, Klarheit und Feinfühligkeit hervorbringen, aber dies sind nicht die Qualitäten selbst, sondern bloß das, was du in deiner Verwirrtheit gewöhnlich für Offenheit, Klarheit und Feinfühligkeit hältst. Doch vielleicht gibt es auch etwas hinter der Idee des Selbst, das bewusst ist, das handelt, das Willensimpulse hat etc. Letztlich kommt man zum Eindruck, dass die Ursprünge all dieser Qualitäten an einem Ort verschmelzen, der völlig jenseits einer Definition liegt und sich schließlich gänzlich auflöst. Jener Ort, der jenseits aller Worte und Gedanken und jenseits von Zeit und Raum liegt, ist die Unzerstörbare Herz Essenz, Prabhasvara Vajragarbha (auf Sanskrit), Ösel Dorje Nyingpo auf Tibetisch. Ösel heißt Klarheit, die grundlegende oder uranfängliche Bewusstheit. Dorje bezeichnet das, was unzerstörbar ist, das niemals von irgendetwas beeinflusst werden kann. Nyingpo bedeutet Herz oder Essenz unseres Seins. Wir könnten uns erlauben, uns auf diese Unzerstörbare Herz Essenz zu verlassen.


Basis, Pfad und Frucht können auch mit dem Bild von Mutter und Kind beschrieben werden: Das Kind hat sich von der Mutter entfernt und verlaufen. Die Mutter ist die wirkliche Natur der Dinge, wie sie in sich sind, die Qualitäten Offenheit, Klarheit und Feinfühligkeit jenseits aller Vorstellungen, die man darüber hegen könnte. Das Kind hat sich verirrt, ist verwaist, ohne Mutter, weil die Mutter (die Realität) vollständig von Verwirrung überdeckt ist. Dies wird die Basis genannt. Wenn das Kind bemerkt, dass es von seiner Mutter getrennt wurde und beginnt, nach ihr zu suchen, wird dies der Pfad genannt. Dies ist die Praxis, bei der man die Dinge entfernt, die den drei Qualitäten im Weg liegen, und sich mit der Realität in einer authentischen und entspannten Weise verbindet. Die Wiederbegegnung von Mutter und Kind beginnt damit, dass die Mutter das Kind ruft und das Kind schließlich antwortet, indem es sich auf den Klang der mütterlichen Stimme zubewegt. Die beiden erkennen sich aus der Entfernung wieder, laufen auf einander zu und schließlich gibt es die Freude, wenn sich Mutter und Kind wirklich treffen, sich umarmen und das Kind auf den Schoß der Mutter hüpft. Dann werden Mutter und Kind eins. Dieser letzte Moment der Realisierung, wenn es nur das gibt, was wirklich da ist, jenseits von Verwirrung, wird die Frucht genannt.


Am Ende, wenn wirkliche Offenheit, Klarheit und Feinfühligkeit und deine Version der drei Qualitäten, mit denen du die ganze Zeit geübt und die du scheinbar verbessert hast, miteinander verschmelzen, wird dir klar, dass es niemals irgendeine Verbesserung gegeben hat und du niemals wirklich irgendetwas getan hast. Die Wirklichkeit war schon immer da, so wie sie ist, du hast sie bloß nicht erkannt. Wenn man übt, scheint viel zu passieren, weil man von völliger Verwirrung zu weniger und weniger Verwirrung bis zu null Verwirrung voranschreitet. Doch wenn du bei null Verwirrung ankommst, erkennst du, dass die Wirklichkeit, die du jetzt erlebst, schon immer da war. Es liegt etwas sehr Besonderes in diesem letzten Moment, in dem es scheint, als habe es niemals irgendeine Verwirrung gegeben, wie auch in der letztlichen Erkenntnis, dass keine Realsierung nötig war oder jemals aufgetaucht ist.

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